»LIMONOW«


von
Emmanuel Carrère



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Die Faszination der Gewalt

Ulrich M. Schmid

Eine Romanbiografie über den russischen Skandalautor Eduard Limonow von Emmanuel Carrère.

Im Reigen der französischen Literatur-Neuerscheinungen dieses Herbstes sticht Emmanuel Carrères Romanbiografie des russischen Enfant terrible Eduard Limonow hervor. Der Autor hat für das Buch, einen Versuch über das authentische Männerleben, den Prix Renaudot erhalten.

Vielleicht sind doch die Mütter an allem schuld. Der Autor Emmanuel Carrère (geb. 1957) versucht seit Jahren, aus dem Schatten seiner weltberühmten Mutter zu treten und sich — im doppelten Sinn des Wortes — einen eigenen Namen zu machen. Hélène Carrère d'Encausse (geb. 1929) hat über zwanzig Monografien über die russische und sowjetische Geschichte vorgelegt, sie sagte im Jahr 1978 das Ende des kommunistischen Systems voraus und ist seit 1990 Akademiemitglied. Emmanuel Carrère fasste bereits 1986 im Roman «Der Schnurrbart», den er 2005 auch selbst verfilmte, seine prekäre Situation in eine groteske Parabel: Ein Mann rasiert seinen Schnurrbart ab, und niemand bemerkt es — der Mann stürzt dadurch in eine tiefe Identitätskrise.

Identische und gegensätzliche Muster

In seinem neusten Buch, «Limonov», beschreitet Carrère einen anderen Weg. Er legt eine packend geschriebene biographie romancée des russischen Skandalautors vor und bringt sich dabei an ausgewählten Schlüsselstellen immer wieder selbst ins Gespräch. Dabei wird deutlich, dass der aus grossbürgerlichen Verhältnissen stammende Carrère seinen Helden heimlich beneidet. Limonow lebt sein abenteuerliches Leben mit einer schwindelerregenden Intensität, die dem französischen Intellektuellen als Tremendum faszinosum erscheint. Limonow hat sich radikal von allen gesellschaftlichen Imperativen emanzipiert und alles, wirklich alles im Leben ausprobiert: Er hatte Sex mit schwarzen Männern, verführte Minderjährige, lebte mit einem Fotomodell zusammen, wurde Familienvater, sass im Gefängnis und tötete.

Limonows unbedingter Wille, berühmt zu werden, brachte ein Schicksal hervor, das in seiner Exaltiertheit als literarischer Entwurf unglaubwürdig wirken würde. Deshalb verlegt sich Carrère auf das dokumentarische Genre der Biografie und unterstreicht, dass Limonow «keine fiktionale Figur» sei: «Er lebt. Ich kenne ihn.» Carrère verhält sich gegenüber seinem schillernden Protagonisten ambivalent. Er mag ihn bezeichnenderweise nicht abschliessend bewerten: «Limonow selbst sieht sich als Held, man kann ihn als Dreckskerl betrachten: Ich selbst behalte mir mein Urteil vor.»

Carrère und Limonow werden paradoxerweise sowohl durch identische als auch gegensätzliche Lebensmuster verbunden: Beide haben russische Vorfahren — Carrère verfügt über Wurzeln in der höchsten Aristokratie, Limonow stammt aus einer ärmlichen Charkower Familie. Beide kennen Erfolg und Demütigung — Carrère trat bereits als junger Autor in Bernard Pivots einflussreicher Literatursendung «Apostrophes» auf, wurde aber gleichzeitig von seinem Idol Werner Herzog brüsk zurückgewiesen; Limonow erregte früh mit seinem Roman «Fuck off, America» Aufsehen, ernährte sich aber zeitweise von Essensresten in Selbstbedienungsrestaurants. Beide sind Stilvirtuosen und können alle Register vom Melodrama bis zur beissenden Ironie ziehen — Carrère verbleibt innerhalb der Grenzen des Decorums, Limonow provoziert bewusst und verstösst gegen alle Konventionen des guten Geschmacks. Beide sind auf der Suche nach einem letzten Lebenssinn — Carrère erblickt ihn im künstlerischen Schaffen, Limonowill als neuer charismatischer Führer die Macht in Russland übernehmen.

Faschistischer Lebenstraum

Carrère deckt in Limonows Lebensbeschreibung eigene biografische Möglichkeiten auf, die aber unrealisiert geblieben sind. Mit dem Namen Limonow besetzt er alle Tabus, von denen seine eigene ruhige Existenz in Frankreich beherrscht wird. Ein Leitmotiv ist Gewalt — archaische, krude, blutige Gewalt. Carrère muss nicht viel zu Limonows Biografie hinzudichten — in verschiedenen Interviews bestreitet Limonow seine Gewaltexzesse überhaupt nicht, er ist sogar stolz darauf. Er inszeniert sein Leben bewusst als Pulp-Fiction, um später daraus literarisches Kapital schlagen zu können. Auch Carrère stützt sich über weite Strecken auf Limonows autobiografische Romane und rekonstruiert so ein Leben, das er gleichzeitig ersehnt und verdammt. Den wichtigsten Grund für Limonows Provokationslust erblickt Carrère in Limonows Vater, der als Ausführungsgehilfe des Stalin-Terrors schwere Schuld auf sich lud und dafür mit der bleiernen Langeweile eines sozialistischen Lebens unter Breschnew bezahlte. Limonow träumt bereits als Kind von einem Leben, das nicht materielle Existenzsicherung, sondern emotionale Aufwühlung zum Ziel hat. Sein Jugendidol ist ein Häftling, der — von Limonows Vater abgeführt — seinem Tod mit stoischer Ruhe entgegenschreitet.

Limonow entflieht der provinziellen Enge, indem er sich 1967 nach Moskau absetzt und Kontakt zu Untergrundkünstlern aufnimmt. Mit seiner schönen Freundin Elena Schtschapowa emigriert Limonow 1974 nach New York, wo er von der Sozialhilfe lebt und sich sexuellen Ausschweifungen hingibt. Elena verlässt ihn für einen italienischen Grafen — Carrère flicht an dieser Stelle ein eigenes, paralleles Liebesdrama in seinen Text ein. 1980 siedelt Limonow nach Paris über, wo er mit seinen autobiografischen Büchern zwar nicht reich, aber doch bekannt wird. Die Kriege in Jugoslawien, Abchasien und Transnistrien bieten Limonow zu Beginn der neunziger Jahre endlich die Möglichkeit, ein authentisches Männerleben zu führen: die Waffe in der Hand, den Feind im Visier.

Der Tod ist immer präsent: Wenn ich nicht schiesse, schiesst der andere. Keine bürgerlichen Verpflichtungen lenken vom reinen Daseinskampf ab. Carrère weiss, dass das ein faschistischer Lebenstraum ist — wider besseres Wissen kann er sich aber der magischen Anziehungskraft dieser Phantasie kaum entziehen. Limonow verlegt sich nach seiner Rückkehr in die russische Hauptstadt auf eine politische Tätigkeit und gründet die rechtsradikale nationalbolschewistische Partei, die in ihrem Logo die Naziflagge kopiert — statt des Hakenkreuzes erscheinen allerdings Hammer und Sichel. 2003 wird Limonow wegen Waffenschmuggels und Terrorismus zu vier Jahren Haft verurteilt — im Gefängnis verfasst er eine Art «Aufzeichnungen aus dem Totenhaus».

Heute lebt Limonow in einem Gutshaus nahe Moskau — Carrère bewundert seinen Helden auch in diesem Punkt: «Das ist genau das Alter, das ich mir wünsche. Eine umfangreiche Bibliothek, weiche Sofas, Schreie der Enkelkinder draussen, Konfitüre, lange Gespräche auf Chaiselongues. Die Schatten werden länger, der Tod nähert sich auf sanfte Weise.» Limonow selbst antwortet auf diese Vision, die den Epilog eines Turgenjew-Romans bilden könnte: «Kennen Sie Zentralasien mit seinen Bettlern, die nicht danke sagen, wenn man ihnen ein Almosen gibt? Man kennt ihr Leben nicht, man weiss nur, dass sie in der Gosse enden werden. Das sind Lumpen. Das sind Könige.»


«Neue Zürcher Zeitung. Online», 23. November 2011

Eduard Limonow

Original:

Ulrich M. Schmid

Die Faszination der Gewalt

// «Neue Zürcher Zeitung. Online» (ch),
23.11.2011