»LIMONOW«


von
Emmanuel Carrère



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Die zweite Geburt des Eduard Sawenko

Tobias Heyl

Emmanuel Carrere hat eine Romanbiografie des wilden ukrainischen Outlaws Limonow geschrieben.

Als Schüler hat Eduard Sawenko einen Vorsatz gefasst, dem er sein Leben lang treu bleiben sollte: Er wollte einer werden, den man nicht schlägt, weil er sonst tötet. Das muss Mitte oder Ende der 1950er-Jahre gewesen sein. 1943 war er im ukrainischen Charkow in arme Verhältnisse geboren worden.

Als junger Mann bedroht er dann ein Mädchen mit einem Messer, gerät in eine wüste Prügelei und landet im Gefängnis. Damit ist er aus der Gesellschaft katapultiert. Als er seine Strafe abgesessen hat, taucht er in der Boheme von Charkow unter, schreibt Gedichte und erfindet sich einen emblematischen Künstlernamen: Limonow, denn sein Humor ist so bitter wie eine Zitrone (limon) und so aggressiv wie eine Handgranate (limonka).



Emmanuel Carrère wurde 1957 in Paris geboren und wuchs im noblen XVI. Arrondissement auf. Sein Großvater war aus Georgien nach Frankreich emigriert und kollaborierte während des Zweiten Weltkriegs mit den Deutschen. Seine Mutter, die Historikerin Helene Carrère d’Encausse, steht als Secrétaire perpétuel an der Spitze der Académie française. Der Unterschied zwischen dem Pariser Großbürgersohn und dem ukrainischen Outlaw könnte größer nicht sein. Carrère hat nun im Gewand eines Romans eine Biografie über Limonow geschrieben. Limonows Leben liefert einen einmaligen Stoff, in dem sich Politik, Gewalt, Sex und Kunst vermischen, die Geschichte eines Poète maudit im 21. Jahrhundert.

Aber der Reihe nach: Bis 1967 hält es Limonow in Charkow aus, dann zieht es ihn nach Moskau. In Untergrund- und Dissidentenkreisen findet er als Dichter Beachtung, es entstehen erste Erzählungen und Romane, die er in der UdSSR natürlich nicht publizieren kann. Sein Liebesieben darf man getrost als ausschweifend bezeichnen. 1974 emigriert Solschenizyn in die Bundesrepublik, Limonow, in Charakter und Habitus dessen schieres Gegenstück, kann nach New York ausreisen. Joseph Brodsky verhilft ihm zu ersten Kontakten, aber wer sich so vulgär und laut aufführt wie Limonow, hat es in den literarischen Kreisen von New York auch dann schwer, wenn er ein russischer Dissident ist.

Weil niemand seine Manuskripte annehmen will, verdingt er sich als Butler eines Milliardärs. Er entdeckt, dass ihm auch Sex mit Männern Spaß macht, nachzulesen in «Ein russischer Dichter bevorzugt große Neger». Mit diesem Manuskript gelingt ihm der literarische Durchbruch. Ein französischer Verleger lässt es übersetzen, und Limonow avanciert in Paris zum Star jener intellektuellen Kreise, die vom Salonkommunismus nichts mehr wissen wollen. Hier nun begegnet Limonow Emmanuel Carrère, der sich auch immer gern als Außenseiter inszeniert hat, was sich freilich nur in edler Kleidung und in der Lektüre rechtskonservativer Autoren manifestierte.

Carrère ist von diesem wilden Typen fasziniert — aber auch abgestoßen. Denn offenbar kann es Limonow nicht ertragen, wie sich seine äußeren Lebensumstände verbessern: in Frankreich ein Star, nach dem Zusammenbruch der UdSSR in Russland rehabilitiert. Die Gewalt übt eine unwiderstehliche Faszination auf ihn aus, und Gorbatschow hat für ihn die Ehre Russlands an den Westen verschachert.



Mittlerweile ein Bestsellerautor, kämpft er aufseiten der Serben gegen die Kroaten, später aufseiten der Abchasen gegen die Georgier. Politisch ist er rechtsaußen angekommen, 1994 gründet er die inzwischen verbotene Nationalbolschewistische Partei Russlands, später landet er erneut im Gefängnis, diesmal wegen illegalen Waffenbesitzes. Heute kämpft Limonow gegen Putin und für Pussy Riot.

In epischer Ausführlichkeit und barocker Drastik breitet Carrère diese schwarze Geschichte der letzten 50 Jahre aus, die unheimliche Rückseite dessen, was der Westen als Wiedergeburt Europas erlebt und gefeiert hat. Limonow verkörpert jenes Russland, das im Gefühlshaushalt der Westeuropäer bis heute als Gegenbild der eigenen Selbstdisziplinierung herhalten muss. So evoziert dieses Buch in eindringlichen Szenen und Bildern spiegelverkehrt auch jene Ängste und Fantasien des Chaos und der Gewalt, die wir noch immer nach Osten richten.


«Falter», Bücher-Herbst 2012, №41a, 2012

Eduard Limonow

Original:

Tobias Heyl

Die zweite Geburt des Eduard Sawenko

// «Falter» (at),
2012