»LIMONOW«


von
Emmanuel Carrère



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Emmanuel Carrère: Limonow

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Emmanuel Carrère hat schon ein gutes Dutzend Bücher geschrieben, darunter nicht nur Romane, sondern auch Biographien, wie die über Werner Herzog oder andere Bücher, die einen wahren Sachverhalt beschreiben. Seine Mutter ist die Historikerin Hélène Carrère d'Encausse mit russischen Wurzeln und wichtiges Mitglied der Académie française. Sie widerrum hat viele Bücher über Russland und die Sowjetunion veröffentlicht und gilt in Frankreich als Spezialistin auf diesem Gebiet. Emmanuel Carrères neuestes Buch »Limonow« ist nun beides, eine Biographie und Roman, der aber auch gleichzeitig einen knappen, subjektiven Abriss der russischen Geschichte liefert. Im Grunde enthält das Buch drei Ebenen, nämlich die Beschreibung des Lebens und der Welt von Eduard Sawenko, genannt Limonow, dazwischen immer wieder Carrères eigene biographische Details und Betrachtungen, dazu kommen schließlich noch Erklärungen der russischen Geschichte. Dabei ist das Buch kein reines Sachbuch, sondern eher eine Romanbiographie, es nimmt sich viele Freiheiten, dazu später mehr.

Wer war Eduard Sawenko? Er wurde 1943 geboren und verbrachte seine Kindheit als Sohn eines Tschekisten in Charkow. Als Kind hat er viel gelesen, dann entwickelte er schon früh seine eigenen Ideale, wie ein Mensch, ein Mann sein sollte, nämlich stark und unbeugsam; er trieb sich im kriminellen Milieu herum, Gewalt gehört zu seinem Leben, genauso wie Alkohol. Eine Möglichkeit, sich abzuheben und Ansehen zu erlangen war das Schreiben, Dichter sein. Er legte sich ein Pseudonym zu, Limonow, das an seinen »beißenden, aggresiven« Humor erinnern sollte. Alkohol spielt natürlich auch eine wesentliche Rolle, sich vollständig mit Hochprozentigem zuschütten, das wird ihn ein Leben lang begleiten. Um der Provinz zu entkommen ging er mit 24 nach Moskau, schließt sich literarischen Gruppen an, Dissidenten, dem Untergrund, schreibt und dichtet, dabei ist er, wie dann auch die kommenden Jahre, eigentlich immer in Opposition zu allem. Entweder er selbst ist Führer, der Beste, wenn dies nicht möglich ist, dann in Opposition, das wird ein Lebenprinzip, beim Fußvolk wird er sich nicht aufhalten. 1974 emigriert er dann nach Amerika, nach New York, zusammen mit der schönen Elena. Überhaupt Frauen: er hat sich ein Klassifikations­system geschaffen, es gibt welche vom A-, B-, C- oder D-Typ, er läßt sich auf alles ein, was sich bietet. Sex durchzieht in ausführlichsten Varianten sein Leben, sei es nun in einer Beziehung, mit Schönen, mit Häßlichen, in New York probiert er es mit Männern, mit Obdachlosen und im späteren Leben, als er älter ist, auch mit Minderjährigen. New York hat er Höhen und Tiefen, ist zeitweise obdachlos, ernährt sich von Essensresten und durchsucht Mülltonnen, kurz darauf hat er Zugang zu den Superreichen, arbeitet für einen Milliardär und führt ein Luxusleben. Währenddessen schreibt er auch immer weiter und regt sich über andere Schriftsteller auf, die auch aus der Sowjetunion kamen, sei es nun Brodsky, Nabokov oder viele andere Emigranten. Dies wurzelt immer wieder in seiner Grundhaltung, daß es nur an der Spitze wert ist zu leben — wenn er selbst nicht dort ist, wenn schon nicht der Beste (Literat), dann macht er eben die anderen nieder. Auf jeden Fall hat er immer wieder Kontakt zu sehr einflußreichen Menschen, Schriftstellern, Intellektuellen, Reichen.

Von 1980-1989 lebt er in Frankreich, es gelingt ihm mehrere Bücher zu veröffentlichen, von denen er mehr oder weniger leben kann. Dann eben 1989, die Welt verändert sich, die Sowjetunion bricht in der Folge zusammen und bisher Undenkbares wird möglich: Limonow wird wieder Moskau besuchen. Außer seinen schriftstellerischen Tätigkeiten, die ihm durch seine Veröffentlichungen auch in Moskau gewisses Ansehen einbringen, wird er in der Folgezeit politisch aktiv. Er wird in den Jugoslawienkriegen aktiv mit der Waffe als »Söldner« mitkämpfen, zu Hause in Moskau gründet er »Limonka« (der russische Spitzname für eine Hand­granate, daher auch das Bild auf dem Buchcover), eine politische Zeitschrift und 1994 ist das Gründungsjahr der »National­bolschewistischen Partei Russlands«, mit seiner Ausstrahlungskraft kann er Menschen begeistern, hier nun agitiert er am Rand der Gesellschaft und schafft sich eine Plattform, seine extremen Positionen zu verbreiten, aber auch eine »Gefolgschaft«, es wird seinem Ego guttun. Immer wieder wird er verhaftet und verbüßt dann auch eine mehrjährige Gefängnisstrafe. Erstaunlich wie vieles in seinem Leben, was er daraus macht: man könnte fast sagen, er nutzt die Zeit, sein Bewußtsein weiterzuentwickeln. Die politischen Aktivitäten dauern bis heute an, er organisiert regelmäßige Demonstrationen, ist in der Opposition aktiv und gründet die Initiative Strategie 31, ist Putin-Gegner und läßt sich immer wieder mal verhaften.

Was ich die letzten beiden Absätze geschrieben haben, eine vielleicht ermüdende Zusammenfassung Limonows Lebens, macht Carrère in seinem Buch gerade nicht. Es liest sich ausgesprochen spannend und lebt von den Extremen dieses Menschen, diesem Exzentriker. Er ist mit Gewalt groß geworden, um etwas druchzusetzten kann auch Gewalt ein Mittel sein, das kriminelle Milieu ist ihm vertraut und zu Zeiten genehm. Auf der anderen Seite ist er Literat, Lyriker, bewegt sich unter Intellektuellen, im Untergrund oder den besten Kreisen und bekommt Kontakte zu weltweit bekannten Größen, gehörte auch in Frankreich zeitweise zu den wichtigsten Intellektuellen. Andererseits landet er in der Gosse, ist obdachlos. Aber er bleibt in allen Lebenslagen ein politisch denkender und aktiver Mensch, auch hier natürlich extrem rechts oder links, auf jeden Fall immer mit höchsten Ambitionen und versucht sich auch durchzusetzen. Durch Carrères Beschreibungen wird immer wieder Limonows Denkweise klar, ein Faschist, der sich außerhalb der Norm bewegt, die würde ihn anöden.

Davon lebt das Buch, der Leser staunt über das, was in einem Leben möglich ist. Limonow ist ein Egomane, völlig auf sich bezogen, größen­wahnsinnig möchte man behaupten, nur der Starke hat eine Daseins­berechtigung. All dies macht Angst, natürlich hat man beim Lesen ein ungutes Gefühl, Widerstand gegen dieses Weltbild. Daneben gibt es aber auch eine gewisse Faszination, weil man eben über solch ein intensives Leben staunt, über die Widersprüche und Abgründe, über das Dunkle. Es fasziniert seine Kompromisslosigkeit, manchmal Ehrlichkeit, er setzt sich bedingungslos ein, geht unbeirrt seinen Weg, ganz oben oder ganz unten. Eine andere Ebene, die das Buch auch durchzieht, ist Limonows Beziehungsleben, zu Männern, meist aber sind es Frauen, mit denen er ein manchmal ausschweifendes Sexualleben hat. Er kann sich für Menschen uneingeschränkt einsetzen und kümmert sich um seine Frauen, wenn diese mal einen Tiefpunkt erreichen (wenn er sie liebt), aber auch für seine Mithäftlinge, auch dort erwirbt er durch seinen Einsatz und ungewöhnlichen Haltungen Ansehen. All dies liest sich sehr spannend.

Auch wenn es eine Biographie ist, es ist auch ein Roman, was zum Lesefluß beiträgt. Carrère hat Limonow einige Zeit persönlich begleitet, aber die Hauptquellen sind wohl die vielen autobiographischen Bücher Limonows. Und das macht es für mich wieder problematisch, denn dieses Material des Selbstdarstellers kann nicht objektiv sein, auch wenn Carrère immer wieder betont, wie absolut ehrlich Limonow sei. Aber es ist eben ein Roman, man kann darüber hinwegsehen, der Rahmen stimmt. Dazwischen mischt der Autor immer wieder seine eigene Biographie, seine eigenen Ansichten. Das ist gewöhnungsbedürftig, manchmal erklärt dies aber auch so manchen Zusammen­hang. Romanhaft empfinde ich auch die historischen Einschübe. Emmanuel Carrère erläutert regelmäßig die aktuelle geschichtliche Situation und erklärt Hintergründe. Man kann durch das Buch also nochmal bildhaft die russische Geschichte erleben, einen manchmal auch neuen Blick darauf werfen. Aber auch hier gilt für mich wie oben: es ist ein Roman, da ist viel Interpretationsspielraum.

Manchmal kamen beim Lesen auch Bedenken, da ich bei Carrère eine Faszination, eine gewisse Bewunderung für Limonow empfand, die über das hier Geschilderte hinausgeht. Vielleicht liegt es auch daran, daß er sich nicht raushält, sondern immer wieder von sich selbst im Buch spricht. Limonow fesselt, zweifellos, aber er bleibt für mich auch eine höchst bedenkliche Persönlichkeit. Nicht nur die Extreme eines Lebens zu sehen, das dem Leser sonst fremd ist, macht die Faszination und das Spannende dieses Buches aus oder ein innerer Blick in die geschichtlichen Zusammenhänge, vielleicht ist es auch der Widerspruch, das Kopfschütteln und Staunen, das es auslöst. Ich möchte nicht missen, es gelesen zu haben...


«Lesemond.de», 4. September 2012

Eduard Limonow

Original:

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Emmanuel Carrère: Limonow

// «Lesemond» (de),
04.09.2012