»LIMONOW«


von
Emmanuel Carrère



Die unautorisierte Webseite zum Buch.
Von den Machern von Limonow.de

zurück

Hic sunt dracones: Eduard Limonows Granatenleben

Nils Wegner

Ausgerechnet der so brave btb-Verlag, seines Zeichens immerhin Teil der Random-House-Gruppe und damit unter der Fuchtel von Bertelsmann, hat just eine Taschenbuchausgabe des biographischen Romans Limonow aus der Feder des preisgekrönten französischen Schriftstellers Emmanuel Carrère herausgebracht. Im Mittelpunkt dieses Werks steht eine der wohl schillerndsten politkulturellen Figuren Rußlands, die wohl die mediale Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte, wie sie in diesem Jahr aus Gründen der Putin-renovatio imperii-Hysterie dem im Vergleich eher farblos-mönchshaften Alexander Dugin zugekommen ist: Eduard Sawenko, genannt Limonow, in dem der Betrachter je nach eigener Verortung wahlweise einen Stalinisten, Faschisten oder halbkriminellen Irren vorfinden mag.

Sezessionisten ist der Schriftsteller und ewige Rabauke wider das politische Establishment seines Heimatlandes kein Unbekannter: Schon im ersten Jahrgang der Print-Sezession thematisierte Christian Vollradt ihn (und seinen ehemaligen Weggefährten Dugin) etwas ratlos als Protagonisten der skurrilen nationalbolschewistischen Bewegung Rußlands, und vor fast genau zwei Jahren stellte Martin Lichtmesz ihn auf einem seiner Ausritte gegen den Spiegel-Streber Georg Diez und dessen seltsame Sympathien für kontroverse Schriftsteller, solange diese keinen deutschsprachigen Hintergrund haben, hier ausführlicher vor.

Dabei kam Lichtmesz auch bereits auf das Buch Carrères zu sprechen, das damals gerade beim wiedererstandenen Matthes&Seitz-Verlag in Berlin erschienen war. So weit, so gut — ich denke nicht, daß sich heute noch allzuviele Leute an Diez‘ Hymnus auf Limonow erinnern oder sich für dessen Biographie interessieren. Immerhin ist der Mann mittlerweile 71 Jahre alt und ist parteipolitisch längst nicht mehr aktiv; auch scheint tatsächlich 1989 das letzte Mal eines seiner Werke auf Deutsch neu herausgebracht worden zu sein (die zig Auflagen seines schriftstellerischen Durchbruchs »Fuck off, Amerika« einmal außer Acht gelassen).

Nun, man sollte einfach an dem hübschen weißen Buch mit der sicherungsbügelbewehrten Zitrone auf dem Einband vorübergehen. Das in jedem einzelnen Moment unstete Leben des Geheimdienstlersohns, jugendlichen Bohemiens und leidenschaftlichen Bürgerschrecks Limonow, dessen vor Wut und Verachtung überschäumende Philippiken ihm einen Ruhm als Popliterat avant la lettre bescherten, ist für sich genommen schon für jeden lesenswert, der sich für einen sympathischen Antihelden erwärmen kann. Denn sympathisch ist und bleibt »Editschka« das ganze Buch über, auch wenn sich angesichts der halbseidenen Punkte in dessen Biographie selbst der Autor Carrère gelegentlich mit sich und seinem Werk hadert. Etwa hinsichtlich der Schilderungen aus der Gründungsphase der nationalbolschewistischen Parteizeitung Limonka, was ein Kosename für die zitronenförmige sowjetische Splitterhandgranate ist, die Eduard Weniaminowitsch Sawenko schon in seiner Jugendzeit Pate für den Spitznamen Limonow — aufgrund seines beißenden Zynismus und polemischen Wesens — stand:

Der Bunker, Margot Führer… An diesem Punkt bin ich mir nicht mehr sicher, ob mein Leser wirklich Lust hat, die Anfänge eines Käseblatts und einer neofaschistischen Partei als mitreißendes Epos erzählt zu bekommen. Und ich selbst bin mir dessen auch nicht mehr sicher.

Und doch ist es komplizierter, als man meint.

Es tut mir leid. Ich mag diesen Satz nicht. Und ich mag nicht, wie sich die feinsinnigen Geister seiner bedienen. Unglücklicherweise ist er oft wahr. Im vorliegenden Fall ist er es. Es ist komplizierter, als man meint.

Ein gleiches gilt für die Skizze über den freiwilligen Einsatz Limonows im Jugoslawienkrieg, als Soldat auf serbischer Seite. Und auch die zahlreichen Eskapaden des Protagonisten auf seiner Odyssee durch die Welt (Charkow, Moskau, New York, Paris, Vukovar, Sarajevo…), seien sie krimineller oder gewalttätiger Natur, werden stets aus der Perspektive eines aufmerksamen, wenngleich leicht verstörten Beobachters geschildert. Ganz zu schweigen von Limonows regen Bett- bzw. vereinzelt Spielplatzgeschichten; denjenigen Lesern, die sich seinerzeit bereits über die handzahmen Liebesszenen in Raspails »Reitern« ereifert haben, sei in diesem Sinne ernstlich von dem Genuß von »Limonow« abgeraten.

Nichtsdestoweniger ist das Engagement Carrères hervorzuheben, der als Mittzwanziger Limonow während dessen Pariser Zeit in den üblichen Intellektuellen- und Literatenzirkeln kennengelernt hatte und das Objekt seiner Arbeit hier ohne Verleugnen einer alten Bekanntschaft, gleichzeitig aber mit gelegentlichem eingestandenen Unverständnis beschreibt. Den Grundstock für seine literarische Arbeit bildeten Limonows Bücher sowie seine persönlichen Erinnerungen, wie der Autor dem Leser klar vor Augen führt. Gleichzeitig, und darin dürfte wohl die literarisch stärkste Seite des Romans liegen, läßt Carrère auch seine persönliche Lebens- und Familiengeschichte in die Gesamtbetrachtung miteinfließen; er stammt selbst aus einer ursprünglich weißrussischen Emigrantenfamilie — seine Mutter Hélène Carrère (d‘Encausse), geborene Zourabichvili, ist seit 1999 Secrétaire perpétuel der Académie française — und hat Rußland vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion besucht.

Just diese, zwischen einzelnen Episoden des Limonowschen Lebensfeldzugs gegen alles Feige, Ehrlose und Ausbeuterische eingestreuten, Passagen der politischen und historischen Prozesse im Rußland zwischen Stalin und Putin sind es denn auch, die die genresprengende Biographie des leidenschaftlichen underdogs Limonow (und in der Tat, trotz aller schriftstellerischen Erfolge hat dieser Mann niemals ein Leben in Wohlstand geführt) gleichsam zu einem geistesgeschichtlichen Parforceritt insbesondere durch die postsowjetische Historie des Landes machen, auf das im Moment wieder einmal alle westlichen Augen in der Mehrheit verständnislos gerichtet sind.

Der btb-Verlag hätte wahrlich keinen besseren Zeitpunkt wählen können, dieses in Frankreich mehrfach preisgekrönte Werk in alle Bahnhofsbuchhandlungen zu streuen; gleichwohl kommt die Aufmachung so bescheiden daher, daß man befürchten muß, viele potentiell Interessierte gingen achtlos daran vorbei und griffen stattdessen nach Zeitungen voller Jammer und Fremdscham. Das muß so nicht sein: Das »Limonow«-Taschenbuch kommt zu einem regelrechten Schleuderpreis daher und bietet sich über Jahrzehnte erstreckende Einsichten aus quasi zweimal erster Hand. Auch für den rein geschichtlich Interessierten ist also in jedem Fall etwas mit dabei, selbst im Falle mangelnder Begeisterung für heroische Schurken.

Schnell schließt sich bei der Lektüre denn auch ein gewisser Zirkel zu den zeitgenössischen Squadristen in Rom: Bei einem Gutteil der Schilderungen Limonows wilderer Zeiten, auch und gerade im Zusammenhang mit seiner und Dugins pittoresker »Nationalbolschewistischer Partei«, fühlt man sich ein gutes Stück weit an die CasaPound erinnert. Das beschränkt sich längst nicht auf das gar schröckliche Faschismus-Sujet, vielmehr ist es eine phänotypische Angelegenheit, wie Carrère auch ganz klar wiederum im Hinblick auf die Wirkung der Limonka feststellt:

Er war zwanzig und furchtbar angeödet in seiner kleinen Stadt in der Oblast Rjasan, als ihm einer seiner Freunde eine seltsame Zeitung zusteckte, die mit dem Zug aus Moskau gekommen war. Weder Sachar noch sein Freund hatten je etwas Vergleichbares gesehen. […] Auch wenn es das Organ einer Partei war, ging es in der Limonka weniger um Politik als um Rock, Literatur und vor allem um Stil. Welchen Stil? Den fuck you-, bullshit- und Mittelfinger-Stil. Punk in Reinform.

Auch, wenn Limonow zur Hochzeit der NBP und der Limonka bereits sein fünfzigstes Lebensjahr weit überschritten hatte, so waren Partei und Zeitschrift doch ein Ausbund an jugendlichem Überschwang und Drang zur Unbedingtheit — durchaus nicht unähnlich der italienischen terza posizione dieser Tage. Als distinguierter deutscher Konservativer und Eichmaß des »Rechten an sich« mag man darüber die Nase rümpfen, doch liegt dessenungeachtet genau dort das pulsierende Leben eines ganz speziellen rechten Typus. »Wer gegen uns?« und »Limonow« nebeneinandergelegt, scheint es beinahe so, als könne man synthetisierend herauslesen, weswegen derlei in der Bundesrepublik schlicht unvorstellbar war, ist und auch bleibt: Der Schlüssel liegt tatsächlich einzig im materiellen Wohlstand.

Während dem Leser in Domenico Di Tullios Roman — und auch realiter in der CasaPound — einstmals perspektivlose Jugendliche der unteren Mittelschicht begegnen, die im ehemaligen Nabel der Welt leben und zwischen drückender Wohnungsnot und politischer Repression nicht den Langmut finden, ein Leben als »angloamerikanische Normalameise« (Thor von Waldstein) zu führen, sind es bei Carrère die vom postsowjetischen Rußland schlichtweg abgehängten und ausgeklammerten jungen Leute aus Provinz und Großstadt, die ohnehin von Kindesbeinen an nie etwas zu verlieren hatten und in Limonows seltsamer Melange aus kulturellen und geschichtlichen Anleihen erstmals ein Ideal finden, dem sie sich rückhaltlos verschreiben können. Carrère beschreibt diese Wirkung folgendermaßen:

Von seinem Alter her hätte er ihr Vater sein können, aber er hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeinem ihrer Väter. Nichts machte ihm Angst, er hatte das Leben eines Abenteurers geführt, von dem alle Zwanzigjährigen träumen, und er sagte zu ihnen, ich zitiere: »Du bist jung. Es gefällt dir nicht, in diesem Scheißland zu leben. Du hast weder Lust, ein x-beliebiger Popow zu werden, noch so ein Arschloch, das nur ans Geld denkt, noch ein Tschekist. Du hast den Geist der Revolte in dir. Deine Helden sind Jim Morrison, Lenin, Mishima und Baader. Na also: Du bist schon ein Nazbol.«

Auch sonst begegnet man einigen bekannten geschichtlichen Gestalten wieder, sei es Gabriele d‘Annunzio, sei es der »blutige Baron« Ungern-Sternberg. Von Ideologie muß man da gar nicht groß das Faseln anfangen, bei der NBP ohnehin nicht. Im Mittelpunkt stand dabei die Attitüde der Gegenkultur, der Totalopposition. Und das Zentrum, den schillernden Schwerpunkt eben dieser totalen Opposition gegen alle sogenannten Verhältnisse bildete Limonow, der sich diese Einstellung nicht für seine (recht kurzweiligen) parteipolitischen Aktivitäten zugelegt, sondern schon seit seiner Jugend eifrig zur Schau gestellt und dafür bis ins hohe Erwachsenenalter hinein manche böse Abreibung kassiert hatte.

Da fällt es denn auch absolut nicht ins Gewicht, wie man einzelnen Aspekten seiner politischen oder persönlichen Vita gegenübersteht — ebenso übrigens, wie es für die Strahlkraft der CasaPound vollends unerheblich ist, wie man dort zur Südtirolfrage steht, auch wenn einzelne Verfechter der reinen Lehre online nicht müde werden, diesbezüglich ihre Satzbausteine zu plazieren. »Limonow« ist zuallererst einmal ein höllisches Lesevergnügen, in zweiter Instanz dann eine hochinteressante Beschreibung der wechselvollen russischen und gesamteuropäischen Geschichte der letzten 40 Jahre. Und über allem ist es die akkurat (und sogar quellenkritisch!) verfaßte, geradezu romantische Lebensgeschichte eines vielleicht verrückten, aber in jedem Fall konsequenten politischen und kulturellen Hasardeurs, den als vielleicht herausragendste Charakterzüge uneingeschränkter Ehrgeiz, grenzenlose Neugier und völlige Unverfrorenheit auszeichnen: Eduard »Eddy« Limonow, der immer mehr Punkrockstar als Literat, mehr Rüpel als Politiker, mehr Macher als Mandarin und mehr Freibeuter als Intellektueller gewesen ist. Nicht von ungefähr denn auch der Untertitel seines Internetblogs: »Ich bin weder Politiker noch Philosoph. Ich bin Schriftsteller…«


«Sezession im Netz», 18. September 2014

Eduard Limonow

Original:

Nils Wegner

Hic sunt dracones: Eduard Limonows Granatenleben

// «Sezession im Netz» (de),
18. September 2014