Inoffizielle Sowjetische Lyrik

Igor Cholin, Vsevolod Nekrasov, Vladislav Ljon, Genrich Sapgir, Eduard Limonov, Wagritsch Bachtschanjan

Inoffizielle Sowjetische Lyrik

/ Herausgeber Reinhard Federmann
// «Die Pestsäule» (Monatsschrift für Literatur und Kulturpolitik),
#6, April/Mai 1973,
Abmessungen: 235⨉163⨉8 mm

limonka

Eduard Limonov

* * *

Dieser Tag war unwahrscheinlich
und von Regen ganz bedeckt
In den Gärten durchnäßte Mauern
roter Ziegelhäuser
Umgeben rings von Bäumen lebten in den Häusern
Menschen Junge Alte Kinder:

In die Ecke starrte früh bis abend Katja

Und mit aufgelösten Haaren
rannte schreiend hin und her — Olja

Unterm Dache las verstohlen blickend
ein geheimes Buch der finstre Fjodor

Auf entzückende Weise liebte
ein neues Stück Natur — Anna
[ein neues Stück Natur
einen Strahl der leeren Sonne
die Tiefe eines leeren Waldes
oder eine neue Blume]

Der Regen schlug im gleichen Rhythmus

In den Spiegel schaute — Olja

Tee zum Kuchen trank nun — Fjodor

Einschlafend entschwebte — Katja

Traurig in den Regen trat nun — Anna

* * *

Weißes Haus der Taube.
Listige Masken des Schicksals
Den zweiten Tag lasse ich
meine Finger verflochten!

Doch die Erde hat immer im Mai geblüht!
Immer bis zum Sündenfall
hat die Erde geblüht!
Die Erde hat immer zur Sünde getrieben
Zur großen und kleinen
Getrieben das süße Blut zu vergießen
Denn was ist ein Leben ohne Sünde
Was ist ein Leben
ohne Trauer um den Zarewitsch Dimitrij
den unschuldig getöteten
auf dem Kieselweg
im Frühlingsgarten

Was ist eine Nacht
wenn nicht Andrej Bogoljubskij
ermordet wird
wenn man ihn nicht
unter dem Treppenaufgang findet
was ist das dann für eine Nacht
Und ist ein heißer Sommermittag
noch ein Mittag
wenn er nicht die schwarzen Trauerkleider
der Mütter und weißhäutigen
Töchter wärmt
Ach nein das ist kein Mittag

Elegie

Ich liebe das volle Kraut
von sehr hohem Wuchs
Ich sehe gerne Valentina Pawlowna
morgens aus dem Haus gehen

Ich liebe das stille träumerische Grün
seinen turgenjewsauren Ton
ein wenig mit Mädchen vermengt,
mit dem Schimmer roter Kleider

Das gemessene Leben ohne Laufen Lärmen
das letzte Buch mit der eingeknickten Seite
Mama mit einem leichten Hauch Parfüm
sie zwitschert wie ein Vogel

Den weißen Tisch darauf das bunte Frühstück
von Tomaten Milch und Eiern
in der Luft die ausgestreckte Hand
das ist meine eigene Hand

* * *

Erhabene Tage erhabene stürmische Nächte
ferne Kälte vom Himmel um die Füße Zugluft streicht
in den hölzernen Brunnen sammeln sich Blätter
und die Qualen sind hell und die Leiden sind leicht
das Wasser in der weißen Karaffe
trinkst du sparsam und stetig
das Wasser wallt auf und beruhigt sich wieder
und die Hand in der weichen weißen Manschette
wird wie früher liegen wie früher atmen

* * *

Am letzten Feiertag es war genau am Montag
Ich saß am Rand des Tisches
Die Unterhaltung blaß und blutleer
Spärlich rann

Die Gestalten meiner Tante
Und anderer Verwandten tauchten auf
In sinnlos mühevoller Arbeit
Vergingen ihre Tage

Das Gespenst des Vaters kam unerbittlich
Auf mich zu und fragte drohend
»Denkst nur du zählst und wir sind die Dummen?!
Hast du unserem Namen Ruhm gemacht?!«

»Nein es ist dir nicht gelungen ich seh’s
Füg dich ein in unsere Ordnung!
Du hast dich schamlos aufgespielt —
Wir — die Sklaven Und du — der Held!«

Ich weiß nicht was erwidern flüstre nur:
Ich bin ein Held! ein Held!
Wart doch Papa warum willst du mich
In eure Ordnung zwängen

In mir ist eine Gabe sie ist in mir
Geh zum Teufel Vater!
Ich werde sterben
Und euch noch alle das Fürchten lehren
Zu guter Letzt!

* * *

Dort im Kurort Baden-Baden
immer um das gleiche Geld
läßt sich zauberhaft dort leben
Auch nichts anderes als leben!

Dort im Kurort Ozeanien
immer um das gleiche Geld
läßt sich zauberhaft dort leben
Auch nichts anderes als leben!

* * *

Du mein Heimatland russische Flur
Ich sag dir’s gut russisch: du Hur…
Hast ja andere allzumal
Strahlend und nackt ohne Zahl

Was soll ich dir, ich der Verdammte
Aus den finsteren Wassern Entstammte
Aus den Schöpfstellen-Ufern bei Nacht
Aus der Stadt

Was soll ich dir, ich von der Wand
Wo man stets an den Hosenschlitz langt
Wo es unmäßig stinkt nach Urin
Sag was hast mit mir Städter im Sinn

Such dir rotbackig Dorfvolk zuhauf
Dort wächst Nachwuchs tagtäglich dir auf
Was soll dir mein zartes Gesicht
Greif dir du einen kernigen Wicht

Und das Heimatland gibt mir’s retour:
Nimm’s zurück nimm’s dir selbst das Wort: Hur…
Du allein bist mir wert und wichtig
Für meine Weiten grad richtig

Für dies Elend eigens gebaut
Für mein Gras für mein Unkraut und Kraut
Und das Flüstern rostiger Klingen
Soll die leidende Brust dir durchdringen

Doch für solchen Dienst zahl ich rechtlich
Deinen Namen zur Kerze verflecht ich
Daß sie brennt und allezeit brennt
Daß es jeder Russe erkennt

Und verzeiht und alles verzeiht
Und den Hut zieht und Tränen dir weiht

* * *

Durch den Wald mit den blauen Rändern und der blutigen Mitte
ringsum stand Rauch aus Anlaß des Herbstes…

Ach es gab und gibt keine Beispiele
daß der verlorene Sohn jemals zurückkehrte

unsicher tritt seine Ferse
aus dem langwolligen Dunkel

Es geschah
daß der bemooste Vater sie küßte
grüner Bankier gebeugter Uhrmacher

Doch der verlorene Sohn
stiehlt lieber unterwegs ein Tischbesteck
und versenkt sich wieder in seine schmerzvollen Wanderungen

Und so jedesmal
doch noch ehe
der Vater das Haus des Vertrauens zu Ende gebaut
kehrt er selbst schon zurück und fleht
daß ihn die Wände auf nehmen und die Mutter verzeihe

und der alte Trog ihn bade

* * *

Ich wandre bei verschlossner Tür
Abends mit den Blicken durch den Raum
Ach vergib was mache ich mit mir
Was mach’ ich mit mir hinterm Zaun

Ich bin erschöpft und schief und bleich
Doch hab ich keine Schuld ich weiß
Ich bin ein Held, ich führe Krieg
Die Mutter und die Weiber habe ich besiegt

Und den Vater. Nachbar Gena habe ich bezwungen
Mit Nachbar Makakenko habe ich gerungen
Ich besiegte Lida unsere Nachbarin
Und Onkel Kolja ihren Mann und ging

Den Dichter Motritsch habe ich besiegt
Er fing zu trinken an ich wachte schrieb
Er läuft betrunken auf der Straße
Ich schreibe denke schweige

Doch sagt mir wozu hab’ ich sie besiegt?
Sagt mir wozu führ’ ich diesen Krieg?
Motritsch zu besiegen ist keine Kleinigkeit
Denn dieser Motritsch der vergißt nicht leicht…

Ich lasse auch noch andere besiegt
Weit hinter mir auf meinem Weg zurück
Doch heute Nacht da träumte mir ich bliebe
Zuletzt allein in tiefer Stille

Und dann werde ich Nachbars Lida rufen
Und werde Nachbar Makakenko rufen
Und werde unruhig meine Mama rufen
Und du mein scheuer Vater — wo bist du!

Fragment

Gehen… fortgehen aus Moskau hinaus
und gehen und immer gehen und Dörfer, wohin
weiß keiner, leisen langsamen Schritts. Mäuse
rascheln hören, den europäischen Teil verlassen.
und in den asiatischen schauen, und die Verzweigungen
des Aralsees, und die schwarzen südlichen Winter.
Kalmücken Tataren Usbeken, und alles was nicht russisch ist.
und würdig aussehen. sie werden manchmal ganz rosig.
unter diesem Blick, ein Vorübergehender verheißt Stille…

Den ganzen riesigen Haufen sammeln.
Gegen Europa führen, und stille Gedanken hegend
vom Kamel das Vordringen ohne Kanonen verfolgen,
ohne Armeen durch die Kraft friedlichen Nomadisierens.
die wunderbaren Franzosen erreichen, und ihrem
schläfrigen Leben ein Ende machen.

…Hühner gackerten. Weiber verloren Späne,
und unbeirrt kletterten wir über die Zäune,
sogar nach Amerika immer gleichmäßig und unbeirrt
meine schwarzhäuptigen Kinder, nur Lamas Tibetaner
Tanguten Tschetschenen und ferne Weiten.
Tataren sind im Dunst, und einfache Russen,
und was früher Mißgeburt genannt wurde — leeres
Gesicht, wild tanzende graue Füße —
galt jetzt als schöner Adler.

Byzanz haben wir genommen, durch Griechenland
in schnellem Lauf, auf dem Weg wachsen wir.
und Schaluppen nehmend. Schiffe. Bewegen
uns auf Italien zu. den Apennin überziehen wir mit Pest.
alle Flüsse erreichend, trinken wir sie aus bis auf den Grund
bis auf die wahnsinnigen nackten Gründlinge.

Vorwärts meine Scharen! das Kamel tauschte ich gegen
ein Auto das irgendwo in den Wäldern kaputtging
nach Amerika tragen uns Schiffe, die uns hassen.
die ersten Gäste sind schüchtern … verstohlenen Gangs.
immer mehr der Unsrigen kommen an. schon raufen
sie sich wütend, nehmen ohne Geld.
und ohne Mädchen wollen sie nicht ziehen.
sie schlagen spucken finden dichte Pfade
in den Feldern, und schon sind sie dahingerollt
die Unsrigen über diese Erde, und in Massen
ergossen sie sich von neuem in die
Heimatorte, erkennen sie nicht wieder.
da und dort wuchert sogar Gras, und blieben.
und schlafen, ich ging um sie herum und maß sie.
die Augen wischte ich mir mit einem trockenen
Banditentuch aus. und ich sagte ihnen — gut!

* * *

Eine Welle fliegt her von einem anderen Ufer.
und zu diesem kommt sie aus der Türkei.
heute ist sie nur so nebenbei
aber morgen wirds die Schicksalswelle sein
Badegäste aus der großen Stadt
erheben ihre Bärte und steigen ins Wasser
ich brauch nicht hineinzusteigen —
ich bin ein Teil von ihm. Wir sprechen leise

Der Mond geht auf. die Scharen sind weiß geworden
milchig abendlich, faul
und ich rudere mit letzten Armen
nicht hin sondern weg von ihnen allen

— Es ist nützlich und sogar lehrreich
wenn auch schwer wie der Tod. komm nicht näher …

Wenn der Teppich meines blutigen Ruhms
über Paris und über Europa hängen wird
wenn von ihm an Fäden Dolche baumeln. Schwämme.
teure Gifte und zerfranste russische Fetzen.
Du — Herr — schaust in die Bläue …

Schamlos angemalte Weiber
sich an brüchigen faulen Zähnen haltend
und in den Haaren Männerfett
fliegen mit weißflügeligen Träumen —
o ja!
ja! ja!
Stellen Sie sich vor! auf gleicher Höhe

Und was ist noch nützlich zu wissen
für junge frühmorgendliche Dichter
die unbestimmter Laune sind
und Weisheit an wenden wollen?

Nichts! Gar nichts!
Abgrund! Schwärze! Grauhaarige Pferde!
Ukrainer und Russen bei Nacht!

Dafür werden sie mich noch erwischen
Tram-tata-tam!
Dafür werden sie mich einmal sicher
Umbringen tram-ta-tam!

* * *

Asien, der Kreml. Polizei
Asien. Nur Asien. Brüllen:
»Gehen Sie aufs Trottoir!« Asien
das Mausoleum. Asien, ein Großes
Asiatisches Reich. Nixenuniform
der Soldaten, schwitzende
unaufhörliche Beamte.
Der tänzelnde oder
gebückte Schtschapov bei der Arbeit.
Helene im weißen wehenden Kleid. Nur Asien.
Und ich bin selbst ein Asiat
und ihm geb ich’s asiatisch.

limonka

Inoffizielle Sowjetische Lyrik

Oberstes Gesetz und Richtschnur der sowjetischen Literatur ist die normierte Sprache. Die sprachliche Norm, genannt »Russische Literatursprache«, ist in Wörterbüchern und Grammatiken fixiert und beschreibt und umschreibt die vom System gewünschte Wirklichkeit genau und präzis. Das sprachliche Inventar dieser offiziellen Wirklichkeit ist ziemlich beschränkt — weite Gebiete der Sprache werden ganz bewußt ausgeschieden.

So werden etwa große Teile des sehr reichen russischen Wortschatzes als veraltet, buchsprachlich, dem Slang, der niederen Umgangssprache oder Dialekten zugehörig deklariert und somit weitgehend aus dem Umlauf gezogen. Auf diese Weise wird eine Vereinfachung und Verdünnung des semantischen Reservoirs herbeigeführt, zugleich das Bewußtwerden und die sprachliche Repräsentation vieler Aspekte des menschlichen Lebens in ihrer besonderen intimen Verflechtung mit der jeweiligen Umgebung entscheidend erschwert. Auch wird dadurch die Kritikfähigkeit der Sprachträger auf einem absichtlich niedrigen Niveau gehalten und umgekehrt ihre Manipulierbarkeit gesteigert. Das gesamte obszöne Vokabular und überhaupt die ganze sexuelle Sphäre unterliegen ebenfalls strengster Tabuisierung. Dieses Gebiet gilt der sowjetischen Ideologie offensichtlich als nicht steuerbar, ist nicht geheuer und wird deshalb offiziell negiert.

Die sprachliche Normierung wirkt sich allerdings nicht nur in einer gezielten Beschränkung des Wortschatzes aus, sie impliziert auch die Einhaltung und ständige Reproduktion der starren hierarchischen Struktur des Systems mit seinen zahllosen bürokratischen Hypostasen. Das Weiterbestehen des Systems ist nur dann gesichert, wenn seine starre Logik auch im sprachlichen Bereich befolgt wird, das heißt, wenn ein bestimmtes semantisches Material jeweils eindeutig und ausschließlich einem oder einigen bestimmten Sachverhalten zugeordnet wird. Jeder Versuch, diese festen Zuordnungsschemata auf die eine oder andere Weise zu durchbrechen und verschiedene freiere und weichere Organisationsformen der Sprache anzudeuten, wird von der allgegenwärtigen Zensur hellhörig sofort als systemstörender Faktor erkannt und als staatsfeindlicher Akt klassifiziert.

In diesem Klima lebt die Sowjetliteratur. Es wäre falsch, eine scharfe Trennung zwischen offizieller und inoffizieller Literatur zu postulieren. Auch die offizielle Literatur enthält Innovationen, nur sind sie gut verpackt, oft bis zur Unkenntlichkeit. Anderseits ist sicherlich ein großer Teil des Schaffens »offizieller« Dichter »inoffiziell«, also nicht publizierbar.

Die Arbeiten der sechs hier vorgestellten Dichter geben einen gewissen, wenn auch durchaus nicht vollständigen Einblick in das bewegte Leben des Moskauer literarischen Untergrunds. Sie lassen erkennen, wie auf das offizielle sprachliche System reagiert wird, welche Auswege gesucht und gefunden werden.

Größte Konsequenz und Vielseitigkeit beweist in dieser Beziehung Igor Cholin, 51-jährig, der Senior unter den heutigen Moskauer Lyrikern. In seinen »Barackengedichten« häuft er primitiv-ordinäres Vokabular der niederen Umgangssprache und verknüpft es lapidar und monoton zu hart determinierten Handlungsabläufen, deren Thematik — Geburt, Liebe, Zusammenleben, Arbeit, Tod — dadurch eine Konnotation erhält, die zur offiziell üblichen scharf kontrastiert. Zugleich geben diese Gedichte präzis die harte logische Struktur des Systems wieder. Im »Cholin-Zyklus« unternimmt er verschiedene Versuche, die sprachlichen Dimensionen des Bewußtseinsraums zu vermehren und auszudehnen. Mit diesen Gedichten entfernt er sich wohl am weitesten von der offiziellen Sprachwirklichkeit, welche die bewegte Vielschichtigkeit des menschlichen Innenraums ängstlich meidet. In den »Kosmischen Gedichten« schließlich erzeugt er oft frappante Mischungen und gelungene Verbindungen aus technischem und science fiction Vokabular, gekoppelt mit Elementen der gleichgeschalteten sowjetischen Realität. Seiner legalen Existenz nach ist Cholin Kinderbuchautor. Er hat noch nie ein »erwachsenes« Gedicht veröffentlicht.

Auf ganz anderen Wegen als Cholin bewegt sich Vsevolod Nekrasov. Sanft und behutsam geht er mit der Sprache um, zerlegt sie in kleinste Bruchteile und baut diese zu eigenartigen, bedeutungsvollen Gebilden zusammen, deren dichte klangliche Verschlungenheit den einzelnen Elementen — durch ständigen eindeutigen Gebrauch stumpf und sinnlos geworden — wieder einen schimmernden Bedeutungsreichtum verleiht. Für Nekrasov sind alle sprachlichen Elemente, auch topographische Bezeichnungen, Eigennamen, Fremdwörter, Ausrufe, die berühmt-berüchtigte Unzahl sowjetischer Abkürzungen gleichwertig und poetischer Verwendung zugänglich. Aus dem offiziellen sowjetischen Stil löst er oft ganze Blöcke heraus und läßt sie in ihrer sinnlosen Gespreiztheit paradieren, oder er nimmt ein bestimmtes, häufig gebrauchtes Formulierungsschema und geht damit so lang zum Brunnen, bis es bricht. Da gerade die sprachlich interessantesten Gedichte von Nekrasov schwer von ihrer russischen Lautgestalt zu lösen sind, ist er hier nicht voll repräsentiert. Nekrasov ist Ende dreißig, hat Mathematik studiert, lebt ohne Stelle und ohne geregelten Verdienst.

In einem eigenartigen, überaus gespannten Verhältnis zur Sprachnorm steht Vladislav Ljon. Ljon führt eine äußerst kunstvolle Sprachakrobatik auf, um der Norm auszuweichen. Sein Vokabular entstammt fast ausschließlich wenig gebräuchlichen sprachlichen Randschichten, die klangliche Verzahnung seiner oft ausgefallenen Sprachfiguren ist sehr weit vorangetrieben. In komplexen Bildern deutet er an, wie durch wissenschaftliche Konzeptionen, Erleben der Natur oder mystische Erkenntnis eine Vereinigung des Menschen mit der Welt angestrebt werden kann. Gleichzeitig wird auch die Gefährdung deutlich gemacht, die ein solches Streben in einer eindeutig und starr formulierten Realität mit sich bringt.

Ljon ist 33 Jahre alt, Naturwissenschaftler und arbeitete bis Juni 1972 als Meeresbiologe in einem Institut der Akademie der Wissenschaften.

Während die drei genannten Autoren in Gebiete weit abseits der konventionellen Sprachwirklichkeit vorgedrungen sind, bewegen sich andere, wie Sapgir und Limonov, näher der sprachlichen Norm.

Genrich Sapgir, Kinderbuchautor wie Cholin, etwa 40 Jahre alt, gestaltet mit gewandten, blitzschnellen Sprachgebärden eine Situation oder ein Ereignis, das oft seine ganze Bedeutung aus der Form bezieht und zugleich in ihr parodistisch aufgelöst wird.

Eduard Limonov zeichnet vor allem Stimmungen, das bewegte Auf und Ab ständig wechselnder psychischer Zustände, gibt ihnen Farbe, Geruch, Geschmack und kleidet sie in konkret gestaltete Umgebungen. Kühne formale Experimente oder semantische Umgestaltungen finden sich bei Limonov auffallend wenig. Auch sein Wortschatz ist überwiegend im allgemein Gebräuchlichen angesiedelt. Aber er ist ein sehr aufmerksamer Beobachter menschlicher Landschaften — nicht nur der eigenen, auch der sozialen und literarischen — und bildet sie in schwungvollen phantasiereichen Gesten nach. Gerade diese aufgelockerte, weiche Form seiner Lyrik läßt auch Limonov weit aus dem konventionellen Rahmen fallen. Gewissermaßen fungiert er als Ausdruck der Volksseele, reflektiert dann aber auch selbstironisch über sein literarisches Schicksal.

Limonov ist 28 Jahre alt, gelernter Schneider, hat keinen festen Wohnsitz und verfügt über keinerlei Einkommen.

Wagritsch Bachtschanjan, armenischer Abstammung, aus Charkov gebürtig wie Limonov, ist Satiriker. Er steht in der langen Tradition russischer Nonsensliteratur und des schwarzen Humors, eine Richtung, die nie völlig abriß und in der Zwischenkriegszeit von Autoren wie Jewgenij Schwarz und Daniil Charms fortgeführt wurde. Dem reichen Fundus des offiziellen Stils entnimmt er alle möglichen feststehenden Formen, zerdehnt oder komprimiert sie und füllt sie gezielt mit einem semantischen Material auf, das gewöhnlich in anderen Zusammenhängen verwendet wird. Durch diese Konfrontationen zieht er vielen Sprachteilen des Systems den Boden unter den Füßen weg und läßt sie in die Grube seines Hohngelächters stürzen. Bachtschanjan, der auch Karikaturen zeichnet, ist Mitarbeiter der Humorseite der »Literaturnaja Gazeta« und kann dort auch publizieren, was nicht allzu scharf gewürzt ist.

Es gibt viele Wege, die von der normierten Sprache weg in die weiten, noch wenig bekannten Räume sprachlichen Denkens führen und ganz andere Existenzmöglichkeiten und Lebensformen sichtbar werden lassen. Die hier ausgewählte russische Untergrundpoesie mag auch für den westlichen Leser interessante Informationen enthalten, von nicht zu überschätzender Bedeutung ist sie für das russische Publikum. Eine russische Ausgabe der Gedichte wäre aus diesem Grund äußerst wünschenswert.

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